Der Revolutionär

Im Dezember 1905 mußte Moissee Rabisanowitsch, Metallarbeiter und Sohn eines Getreidegroßhändlers, aus Rußland flüchten. Die zaristische Geheimpolizei, die Ochrana, war hinter ihm her. Moissee, der aus einer frommen jüdischen Familie stammte, hatte bis zu diesem Zeitpunkt, er war gerade fünfunddreißig Jahre geworden, ein sehr unruhiges Leben geführt. Er studierte an der Universität von Odessa Ingenieurwissenschaften, gehörte dort einem illegalen revolutionären Zirkel an und brach sein Studium nach fünf oder sechs Semestern ab, weil er zu der Meinung gelangt war, die politische Agitation unter der Arbeiterschaft zur Erhebung gegen den Zaren sei wichtiger als das Studieren. Er arbeitete mehrere Jahre in einer Eisenbahnausbesserungswerkstatt, wurde wegen umstürzlerischer Tätigkeit entlassen, vor ein Gericht gestellt, und zu einem Jahr Gefängnis verurteilt. Während seiner Haft in einer alten Festung bei Odessa zog er sich ein Lungenleiden zu, das ihn bis zu seinem Lebensende quälte. Sein schrecklichstes Erlebnis in dieser Zeit war eine Auspeitschung vor allen Gefangenen, weil er mit anderen politischen Häftlingen gegen das schlechte Essen protestiert hatte. Nach seiner Entlassung fand er Arbeit in einem französischen Stahlwerk bei Odessa. Er organisierte zusammen mit einigen Gesinnungsgenossen um die Jahrhundertwende den ersten Streik, als bei einem schweren Unglück zwölf Arbeiter getötet wurden.

Mit siebenundzwanzig Jahren hatte er die damals siebzehnjährige Olga Sudakowitsch geheiratet, obwohl deren Eltern, die eine Fischereiflotte und eine Fischkonservenfabrik am Schwarzen Meer besaßen, gegen diese Verbindung waren. Ihr Vater nannte ihn einen Bosnjak - was so viel wie Hungerleider oder Habenichts heißt - der außerstande sei, eine Familie zu ernähren; ihre Mutter verübelte ihm, daß er sich vom jüdischen Glauben abgewandt hatte, trejfe aß (: unrein; so wird genannt, was nach den jüdischen rituellen Speisegesetzen nicht erlaubt ist.), den Schabbat nicht einhielt und auch nicht in die Synagoge ging. Doch halfen weder die Verwünschungen des Vaters noch die Tränen der Mutter, Olga folgte Moissee und zog nach Odessa, obwohl sie an Politik kaum interessiert und schon gar keine Revolutionärin war. Dort erlebte sie den Beginn der Ersten Russischen Revolution von 1905, die sich auch im ukrainischen Industriegebiet ausbreitete und in der Moissee wieder eine führende Rolle spielte. Nach der Niederschlagung der Revolution Ende 1905 flüchtete er und ging in die Illegalität.

In einer ärmlichen Wohnung am Rande der Stadt lebte Olga und zitterte um ihn. So hatte sie sich das Leben an seiner Seite nicht vorgestellt. Erst jetzt wurde ihr bewußt, daß sie die meisten Tage und Nächte ohne Mann sein würde und vorerst auch darauf verzichten mußte, Kinder zu haben. »Ich kann es nicht verantworten, daß wir Kinder kriegen, die möglicherweise ohne Vater groß werden müssen«, pflegte Moissee zu sagen. »Weiß ich, was heute oder morgen mit mir geschieht?«

Sein Name stand auf allen Fahndungslisten. In einer abenteuerlichen Flucht durchquerte er die Ukraine und Weißrußland und gelangte über Moskau nach Warschau.

Von hier halfen ihm politische Freunde, die Grenze nach Deutschland zu überschreiten. Im März 1906 kam er in Berlin an.

Jener russische Emigrant, Moissee Rabisanowitsch, war mein Vater.

 

Diese Geschichte der Flucht aus dem zaristischen Rußland stammt von Papa, so hat er sie mir erzählt. Mamas Version dagegen hört sich ganz anders an, ihr fehlt der Glanz revolutionären Heldentums: Papa sei aus Rußland geflohen, um nicht zu den Soldaten zu müssen. Im russisch-japanischen Krieg 1904/05 wurden erstmals auch Juden zwangsrekrutiert. Bis dahin waren die russischen Juden nicht wehrwürdig gewesen. Doch bevor sie sich für den Zaren totschießen ließen, flüchteten viele von ihnen ins Ausland. Auf diese Weise sei Papa nach Berlin gekommen.

Ich neige dazu, Papas Version als die richtige anzuerkennen. Nicht darum, weil sie die interessantere ist, sondern aus anderen Gründen. So war Papa sein Leben lang sehr zurückhaltend, prahlte nie mit etwas und sagte lieber zu wenig als zu viel. Außerdem, als er mir eines Tages auf mein Drängen hin von seinem Leben in Rußland erzählte, war das kein Heldenepos, sondern die nüchtern vorgebrachte Erinnerung an eine Zeit, die für ihn Historie geworden war und in der er selbst eine untergeordnete Rolle spielte.

Nur durch wiederholtes Fragen erfuhr ich, daß er zum Beispiel der Delegation angehört hatte, die mit einer Matrosenabordnung des Panzerkreuzers »Potemkin« verhandelte, oder daß er mehrmals als Kurier nach Sebastopol, dem Heimathafen der Schwarzmeerflotte, geschickt worden oder daß er Mitbegründer der ersten illegalen bolschewistischen Zeitung namens »Borba« gewesen war. Außerdem erzählte er so viele intime Details aus dieser Zeit, daß er sie nicht alle erfunden haben kann. Gegen Mamas Version spricht auch die Tatsache, daß sie es meisterhaft verstand, ihre und seine Vergangenheit zu vertuschen, aus Angst, sie könnte der Familie irgendwann einmal zum Verhängnis werden. Alles, was ihr früheres Leben betraf, deckte sie mit Lügen zu. In ihrer Vorstellung gab es nur dann eine Überlebenschance für uns, wenn alle Einzelheiten der damaligen Zeit unkenntlich gemacht wurden.

 

Die russische Emigrantengruppe in Berlin nahm Papa auf. In den nächsten Monaten betätigte er sich ausschließlich für die Bolschewiki, er war Berufsrevolutionär geworden.

Ein Jahr später, im Frühjahr 1907, folgte ihm Mama in die Emigration. Doch auch in Berlin sah sie ihren Mann nicht viel öfter als daheim in Odessa. Er war meistens unterwegs, und im Spätsommer des gleichen Jahres verschwand er, wie Mama mir erzählte, ganz plötzlich aus der Stadt. Warum, ist ihr nie recht klargeworden. Er blieb zwei Jahre fort. Wo er in dieser Zeit gewesen war und was er getan hatte, darüber sagte er nie etwas Genaues und ließ mir damit Raum für alle möglichen Spekulationen, die vom Waffenaufkäufer für die russischen Revolutionäre bis zum Bombenleger, vom Geheimkurier bis zum Spion reichten. Es kann aber auch alles viel harmloser gewesen sein.

Nur von mehreren Aufenthalten in der Schweiz berichtete er und war sehr stolz darauf, in Genf mit Lenin und dessen Frau, der Krupskaja, zusammengetroffen zu sein. Auch andere russische Revolutionäre sah er in Genf, doch was er mit ihnen zu tun hatte, habe ich genau so wenig herausbekommen wie den Grund für sein mysteriöses Verschwinden.

1909 kam mein Vater mit einem falschen russischen Paß aus der Schweiz nach Berlin zurück. Er hieß nun Jakob Senger, und seine Frau war eine geborene Fuhrmann. Mit dem neuen Paß und dem neuen Namen trat eine Wende in seinem Leben ein: Er setzte einen Schlußstrich unter seine revolutionäre Vergangenheit, wurde wieder ein legaler, polizeilich gemeldeter Bürger, mietete eine Wohnung in der Schönhauser Allee, und nahm Arbeit als Dreher in einer Aufzugsfirma an. Er war inzwischen neununddreißig Jahre alt.

1911 zogen meine Eltern nach Offenbach und von dort einige Monate später nach Frankfurt. Hier fand Papa Arbeit als Revolverdreher in den Adlerwerken. Trotzdem lebte er immer noch in der Angst, man könnte ihn eines Tages wegen seiner illegalen Vergangenheit belangen; er befürchtete, der falsche Paß würde bei einer polizeilichen Überprüfung entdeckt und er und Mama würden ausgewiesen. Nicht zuletzt machte er sich Sorgen, seine Aussprache könnte ihm einmal zum Verhängnis werden, denn er hat nie richtig deutsch gesprochen, immer nur gejidelt. Auch noch später, während der ganzen Hitlerzeit.

 

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